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GAB Bielefeld

Armut in Bielefeld diskutieren

Gemeinsam mit dem Verein Widerspruch e.V. und der Sozialberatungsstelle im Stadtteil Baumheide haben wir über Armut in Bielefeld gesprochen. Hier unsere Positionen:

Die Entscheidung der Essener Tafel, vorübergehend nur noch Bedürftige mit deutschem Pass als neue KundInnen aufzunehmen, hat unfreiwillig eine weitergehende Diskussion über Armut in Deutschland und das Verhältnis von Sozialleistungsbezug zu Arbeits­einkommen ausgelöst. Diese Debatte ist längst überfällig; wir wünschen uns eine kritische und unbequeme Auseinandersetzung mit dem Thema Armut auch in Bielefeld.

Armut in Deutschland bedeutet konkret Unterdeckung primärer Bedürfnisse, die für ein Leben in Würde notwendig sind: Regelsätze, die einem Erwachsenen für „Nahrungs­mittel, alkoholfreie Getränke“ täglich 4,77 € und einem fünfjährigen Kind sogar nur 2,79 € zur Verfügung stellen, sind mehr Not als bekämpfte Armut. 1,33 € beträgt der tägliche Satz für den Bereich „Freizeit, Unterhaltung und Kultur“. Wie Gesundheitsminister Jens Spahn zu behaupten, mit Hartz IV habe jeder, was er zum Leben brauche, wird ganz offensichtlich der Realität von Armut und Sozialleistungsbezug nicht gerecht. Weder gesunde Ernährung noch soziale Teilhabe können mit den geltenden Regelsätzen ausreichend gewährleistet werden. Hartz IV bedeutet Mangelernährung und soziale Isolation.

Wir teilen daher die Forderungen etwa der Wohlfahrts­verbände nach einer sofortigen deutlichen Anhebung der Regelsätze.

Die im Zuge der neuen Armutsdiskussion aufkommende Behauptung, Hartz IV sei oft lukrativer als ein Job („Hartz IV lohnt sich oft mehr als Arbeit“, so titelte die FAZ vom 19.03.2018 mit Bezug auf Berechnungen des sozialstaats­kritischen Vereins „Bund der Steuerzahler“ - ein Bericht, der sich über die Agenturen vervielfältigte) zielt auf ein Gegen­einander von Armen mit und ohne Arbeit. Die Berechnungen des Steuerzahlerbundes halten einer Detailüberprüfung nicht stand, wecken aber durch die unhinterfragte Weitergabe und Wiederholung Empörung. Es ist zu befürchten, dass solche tendenziösen und unseriösen Berichte den Boden für eine Absenkung der Regelsätze bereiten und zugleich eine Diskussion um die Höhe der Mindestlöhne verhindern sollen.

Wenn es sich bei der Höhe der Sozialleistungen nicht lohnt, arbeiten zu gehen, ist dann nicht die logische Folge, dass sie gekürzt werden müssen? Die Diskussion muss in die umgekehrte Richtung zielen – die unzureichenden Hartz-IV-Sätze zeigen, wie ärmlich das geltende Mindestlohnniveau ist. Wenn es einer zunehmenden Zahl prekär Beschäftigter mit einem Mindestlohn von 8,84 Euro pro Stunde nicht möglich ist, ihren Lebensunterhalt ohne zusätzliche Aufstockung durch Hartz IV zu bestreiten, dann ist daraus zu folgern, dass ein menschenwürdiges Leben auch für diese Personengruppe oftmals nicht möglich ist.

Daher unterstützen wir von der GAB Bielefeld den Aufruf von 30 bundesweit tätigen Sozialverbänden ‚Arme Menschen nicht gegeneinander ausspielen – Sozialleistungen endlich erhöhen‘! Innerhalb weniger Tage haben sich deutschlandweit bereits über 450 Organisationen und über 2.500 Einzelpersonen angeschlossen.

Bielefelder Problemlagen

Auf kommunaler Ebene erfährt das Thema Armut nicht ausreichend Beachtung.

Mit ca. 50.000 Bürger*innen bezieht in Bielefeld statistisch gesehen ungefähr jede*r sechste Einwohner*in Sozialleistungen (Hartz IV, Sozialhilfe und Grundsicherung im Alter oder bei Erwerbsminderung) und ist somit von Armut betroffen. Bezieher*innen von Wohngeld, Kinderzuschlag und Schüler-BAfög sowie Personen, die aus Scham keinen Antrag auf unterstützende Leistungen stellen, sind hierbei nicht mitgezählt. Die Zahl der von relativer Armut betroffener Personen liegt demzufolge noch deutlich höher.

Allein die etwa 38.000 Hartz IV - Bezieher*innen mussten im vergangenen Jahr in den Monaten Januar bis November 3.733.766 Euro für ihre Wohnkosten aus ihren Leistungen für den täglichen Bedarf (z.B. Geld für Nahrungsmittel, Bekleidung etc.) zuzahlen, da diese nicht im vollen Umfang anerkannt wurden. Während die Kaltmiete in Bielefeld im Schnitt bei rund 6,60 Euro pro Quadratmeter liegt, werden lediglich 4,64 Euro Kaltmiete pro Quadratmeter von der Stadt Bielefeld als angemessen anerkannt (eine Zahl, die aus dem Jahr 2004 stammt). Da sich Sozialleistungen aus Leistungen für die Wohnung und für den täglichen Bedarf zusammensetzen, fehlen diese 3,7 Millionen Euro ungedeckte Wohnkosten für die Bedürfnisse des Alltags der betroffenen Personen. Hiervon betroffen sind natürlich auch Personen, die Sozialhilfe beziehen und Senior*innen, deren Rente im Alter zu gering ausfällt, aber für diese Personen ist keine Statistik bekannt.

Bedenkt man, dass der soziale Wohnungsbau in Bielefeld jahrelang vernachlässigt und der kommunale Wohnungsmarkt aus der Hand gegeben wurde, stellt sich die Wohnungssituation der von Armut betroffenen Personen mehr als prekär dar. Sozialleistungsbezieher*innen finanzieren oftmals ihre Miete von dem Geld, das eigentlich für ihre Ernährung vorgesehen ist.

Wir fordern eine sachliche, zielführende und konsequente Debatte über Armut und prekäre Lebensverhältnisse in Bielefeld. Diese muss den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken, statt arme Bevölkerungsgruppen gegeneinander auszuspielen.

Konkret: Maßnahmen gegen prekäre Wohn- und Lebensverhältnisse, die einem solidarischen Miteinander in Bielefeld gerecht werden und der Versuchung eines verkürzten und undifferenzierten Diskurses über Armut widerstehen. Sozialer Wohnungsbau, Richtwerte für angemessene Mietkosten, Grenzwerte für Kita-Gebühren und OGS-Beiträge gehören auf den Prüfstand.

Wir schlagen einen ständigen Runden Tisch vor, um mit den kommunalen Akteuren aus Politik, Verwaltung, Beratungspraxis und Betroffenen Probleme realistisch zu benennen und nach Lösungen zu suchen.

Bielefeld, den 28.03.2018

„Perspektive für Arbeitslose“ und Arbeitslosenzentrum Bielefeld (GAB Gesellschaft für Arbeits- und Berufsförderung Bielefeld)

Verein Widerspruch e.V. – Sozialberatung

Beratungsstelle im Stadtteil Baumheide / Sozialberatung der Gesellschaft für Sozialarbeit (GfS)